Interview mit Miron Zownir

Ich treffe Miron Zownir in seiner Wohnung in Prenzlauer Berg. Er trägt wie immer seine dunkle Sonnenbrille. Im Wohnzimmer läuft Klassik. Das Bücherregal ist gefüllt mit Werken von Nietzsche, Shakespeare, Kafka und Dostojewski – für ihn die Größten. Dazwischen stehen seine eigenen Fotobücher. Das neueste „Berlin Noir“ ist gerade bei PogoBooks erschienen. Es ist das „härteste Fotobuch, das es über Berlin gibt“, findet Miron. Zu sehen sind Bilder von Obdachlosen, Fetisch Club Partys, Menschen, die sich gerade Heroin spritzen und weitere düstere Szenarien sowie das wilde Leben Berlins von Ende der 70er bis 2016. Seit über 30 Jahren dokumentiert der deutsche Fotograf nun schon die Welt, wie er sie sieht, mit all ihren politischen Problemen, der Heuchelei und menschlichen Abgründen. Die ersten 20 Jahre wurden seine Fotografien noch mehr oder weniger zensiert oder ignoriert. Mittlerweile hängen sie im Fotomuseum Winterthur (Dark Side I und II, 2008/2009), in den Deichtorhallen in Hamburg (2016) oder wie die aktuelle Ausstellung „Berlin Noir“ in der Hardhitta Gallery von Bene Taschen in Köln (noch bis zum 27. Mai) und werden in internationalen Magazinen und Zeitungen wie Dazed and Confused, Zoo Magazine, Photo International, Stern und Zeit gezeigt.

Ein Gespräch mir dem radikalen Fotografen über Solidarität mit den Außenseitern, die Faszination Grenzen zu überschreiten und die verlogenste Droge unter der Sonne.

 

Wie hast du mit der Fotografie angefangen?

Meine ersten Leidenschaften waren Literatur und Film. Meine damalige Freundin hat Fotografie studiert, Stillleben. Ich brauchte ein kreatives Outlet und hab mir dann ihre Kamera ausgeborgt, bin auf die Straße und hab von Anfang an die Außenseiter, Obdachlosen und Punks fotografiert. Das, für was sich andere nicht interessiert haben oder sich nicht damit auseinandersetzen wollten.

 

Wo war das? Du bist in Karlsruhe geboren.

Ich bin schon Mitte der 70er [mit Anfang 20] nach Berlin gekommen. Hier wollte ich auch Film studieren. Sie haben mich aber abgelehnt und 2003 holten sie mich dann als Gastdozent [an der DFFB], weil mein Film „Bruno S. – Die Fremde ist der Tod“ auf der Berlinale und weltweit auf allen großen Dokumentationsfestivals  lief.

 

Was hat dich immer an dem Düsteren, Melancholischen fasziniert?

Das Gegenteil langweilt mich (lacht).

 

Hattest du eine sehr behütete Kindheit, wo man diese Extreme nicht so gesehen hat?

Nicht unbedingt. Ich bin die ersten sechs Jahre bei meinen Großeltern aufgewachsen. Behütet zwar schon, aber das waren Nachkriegsverhältnisse, mit Außentoilette.

 

Das kenn ich auch noch von Früher.

Das war eine kafkaeske Situation, schon eher düster. Eine extreme Variante kam noch dazu: Der Bruder meines Opas war obdachlos. Der hatte lange im Wald in der Kälte gelebt, war Alkoholiker und sein Bein musste amputiert werden. Der hat öfters im rattenverseuchten Stall neben dieser Außentoilette geschlafen. Jedes Mal, wenn ich als Kind auf die Toilette ging, und ich hatte eine Rattenphobie, dann die Vorstellung, dass daneben ein für mich unheimlicher, von der Gesellschaft ausgestoßener Mann lag, der sich gar nicht artikulieren konnte – eine biblische Gestalt, wie Lazarus, der vier Tage im Grab lag… Das war nur eine schräge Variante meiner frühen Kindheit. Ich bin dann mit sechs Jahren zu meinen Eltern gezogen. Bei meinen Großeltern hab ich gelebt, weil meine Eltern in engen Verhältnissen wohnten, während sie ein Haus gebaut haben. Die waren beide berufstätig. Nur so konnten sie diesen Spagat schaffen. Von daher war ich schon sehr früh mit ganz anderen Situationen konfrontiert, wie man sie vielleicht aus einer Novelle von Dostojewski oder Kafka kennt und nicht unbedingt mit dem Wohlstandsdeutschland verbindet.

 

Dein neues Buch „Berlin Noir“ zeigt noch gar nicht die extremsten Bilder, die man sonst auch von dir kennt.

Mir geht es nicht primär um Extreme. Meine Fotos sind ebenso mystisch, geheimnisvoll oder poetisch. Man sagt immer wieder extrem. Ich suche nicht bewusst nach einem Extrem. Ich orientiere mich in erster Linie an den Dingen, die mich faszinieren oder berühren. Ich inszeniere nicht. Ich geh raus und lass mich auf Situationen ein, bei denen ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Ich fotografiere das, was vorhanden ist, aber natürlich mit einer Intuition, mit Instinkt und auch einer gewissen Bereitschaft und Interesse jedes Tabu oder Hindernis zu überschreiten.

Mein Moskau Buch ist 100% düster, grausam, krank. Aber das musste ich nicht suchen, das war in jeder Ecke sichtbar. Bloß die Leute haben die Augen verschlossen, weil sie ihre eigenen Prioritäten und existentiellen Sorgen hatten. Die mussten sich irgendwie über Wasser halten und hatten keine Kraft oder Interesse sich mit dem Schicksal anderer zu befassen. Der Kommunismus war gerade kollabiert. Das einzige was es noch im Überfluss gab, waren betrunkene Milizen und Polizisten. Wenn mich die Autoritäten gesehen haben, wurde ihnen schnell klar, dass ich nicht das Vorzeige-Moskau dokumentiere. Da war ich sofort Staatsfeind Nummer 1. Ich zeig dir ein Foto aus Moskau. Da sind tausende Leute täglich dran vorbei gegangen. Das war neben dem Eingang zur U-Bahn.  [Er geht zum Regal, holt „Down and out in Moscow“ und zeigt mir zwei Bilder eines Obdachlosen]. Hier liegt er in seinen eigenen Exkrementen und lebt noch und hier, zwanzig Stunden später ist er tot.

 

Oh Gott.

Tausende von Leuten. Und keine Sau hat sich dafür interessiert. Aber als ich fotografiert habe, wollte mir irgendein Hampelmann von hinten in die Kamera greifen und ein nach Wodka stinkender Bulle nach meinem Ausweis fragen, der mit einer Kalaschnikow um sich gewedelt hat. Das ist Heuchelei. Das ist diese Verlogenheit, in der wir leben. Die gibt es bei uns im Westen genauso. Bloß viel subtiler. Politisch korrekter verpackt, aber voll scheinheiliger Argumente, die nur die Posten und Diäten der Politiker sichern sollen. Willst du einen Kaffee?

 

Ja, gerne.

Warum soll ich das ignorieren, was jeder andere ignorieren will? Warum soll ich das kolportieren was die Leute sehen wollen? Klar, es wär ein einfacheres Leben, wenn ich mich auf Fashion-Fotografie konzentriert hätte. Immer mit schönen Frauen in gut riechenden Environments. Sicher mehr Spaß als das, was ich mache. Trotzdem fasziniert mich das was ich mache 100-mal mehr. Das ist natürlich auch eine aufklärerische Arbeit. Aber primär lass ich mich intuitiv mitreißen. Natürlich ist da eine Fraternity, eine Empathie für die Ausgestoßenen, für die Unterdrückten. Ich bin jetzt keiner, der die ganze Welt umarmt. Aber wer auf der Straße unter solchen Umständen lebt, der hat so ein verdammt hartes Leben. Egal ob er das größte Arschloch ist oder ein Heiliger. Er verdient einen gewissen Respekt.

 

Ich stell es mir auch wahnsinnig schwer vor, da nicht komplett in Mitleid den Menschen gegenüber zu versinken.

Es gibt viele Empfindungen, nicht nur Mitleid. Vor allem sind Obdachlose immer ausgeliefert. Sie sind auch mir ausgeliefert. Ich weiß das. Das ist ja auch irgendwie das Letzte, in der Öffentlichkeit exponiert zu sein. Wenn ich in irgendeiner Ecke liegen würde, und da kommt so ein Arsch und fotografiert mich – wenn ich noch die Kraft hätte – würd ich auch aufstehen und sagen, was willst du eigentlich, verpiss dich. Aber ich hatte im Gegenteil, in Moskau oft das Gefühl, dass viele Dankbar dafür waren, dass sie überhaupt jemand beachtet hat. Und ich denunziere die Leute nicht. Das haben die meisten gespürt. Ich fotografiere jemanden nicht um zu zeigen, was der für ein Versager ist, sondern um zu zeigen, hey fuck, eine Wohlstandsgesellschaft wie unsere müsste zumindest Alternativen anbieten und diesen Leuten noch eine Chance geben.

Ein weiterer Grund, warum ich viel Extremsituationen oder Außenseiter dokumentiert und fotografiert habe: Ich habe selbst immer am Rande der Gesellschaft gelebt. Ich bin ein halbes Jahr vor dem Abitur von der Schule abgegangen, habe in slumähnlichen Verhältnissen gelebt in Kreuzberg, im East Village, in Hollywood. Ich hab von der Hand in den Mund und meist illegalen Jobs gelebt. Ich habe allerdings in New York auch als Türsteher gearbeitet und kam mit vielen Leuten in Kontakt. Madonna, Klaus Nomi, Billy Idol, Basquiat, Alan Vega und so weiter hätte ich zum Beispiel alle fotografieren können.

 

Was war das für ein Club?

„Danceteria“. Das war einer der...

 

Angesagten Clubs?

Ja, aber das hat mich nie interessiert. Ich hatte ganz andere Prioritäten. Hier [in „Berlin Noir“] sind zwar auch ein paar Celebrities drin, aber die hab ich jetzt nicht auf dem goldenen Tablett serviert. Nobody deserves a break (lacht).

 

Fotografierst du auch Freunde oder hauptsächlich Fremde?

In erster Linie sind das fremde Menschen. Aber wenn ich jetzt so jemanden wie Ben Becker in der Badewanne fotografiere, muss ich den natürlich kennen. Das war nach einer ziemlich exzessiven Nacht, über die ich mich nicht expliziter auslassen will (lacht).

 

Du hast lange in Amerika gelebt, bis du Mitte der 90er wieder nach Berlin gekommen bist.

Neun Jahre in New York, den Rest in Los Angeles und Pittsburgh.

 

Was hat dich in der Zeit dort am meisten geprägt?

Was mich da fasziniert hat: Es war viel lockerer, viel kosmopolitischer, viel dynamischer, viel extremer, viel härter. Und das Wetter war wesentlich besser. Der Ozean. Die Weite des Landes. In den 70er Jahren war Berlin viel grauer, auch wegen der fucking Kohle. Jeder hat damals mit Kohle geheizt. Die Stadt hat gestunken, war grau, düster und trotzdem faszinierend. Das ist es ja eben. Man denkt immer in diesen idiotischen Kategorien „schön“, „hässlich“. Berlin war damals eingeschlossen, es war ein Open-Air Gefängnis – trotzdem eine faszinierende Stadt. Ich sag nicht, dass es faszinierender war als jetzt. Es war aber mystischer. Man sagt immer, der Osten ist so arm und verkommen. Aber der Osten hat trotzdem Dinge, die hat der Westen nicht. Die düstere Folklore der Schwermut. Die Sehnsucht nach Freiheit. Nehmen wir nur mal Dostojewski. Mit dieser Tiefe hat kaum irgendjemand im Westen geschrieben, von sozialen Abgründen, Leidenschaften, den ganzen psychischen Problemen und den Widersprüchen des Lebens.

In New York gab es auch andere Situationen. Ich habe immer wieder an den Piers fotografiert, wo die Schwulen sich in zerfallenen Lagerhäusern trafen und sexuell ausleben konnten. Die schwule Emanzipation hatte gerade ihren Höhepunkt erreicht. Da waren auch Ärzte und Anwälte dabei und die waren natürlich nicht scharf darauf bei ihren anonymen, sexuellen Ausschweifungen fotografiert zu werden. Da wurde auch einmal auf mich geschossen. Ich bin für meine Fotografie verhaftet und angegriffen worden. Aber ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Film rausgerückt. Ich bin eher diskret und dränge mich nicht gerne auf. Aber du musst als Fotograf auch eine gewisse Dreistheit haben, sonst musst du Stillleben fotografieren und darfst nicht auf die Straße gehen.

 

Warum hast du immer in Schwarz-Weiß fotografiert?

Schwarz-Weiß ist für mich intimer. Es ist subjektiver, mystischer. Es unterscheidet sich vielmehr von dem, was man überall sieht und was man in der Realität wahrnimmt. Angeblich soll man ja auch nur in Schwarz-Weiß träumen. Alle meine Lieblingsfotografen fotografieren in Schwarz-Weiß.

 

Wer ist das?

Das sind einige. Diane Arbus, Weegee, Robert Frank, Don McCullin… Meine Lieblingsfotografen sind alle Straßenfotografen. Diane Arbus hat auch inszeniert, aber trotzdem sind ihre Fotos authentisch, weil sie wirkliche Personen fotografiert und authentische Momente eingefangen hat. Sie hat damit die Grenzen der traditionellen Dokumentarfotografie überschritten und erweitert.

 

Gibt es irgendetwas, das du noch gern fotografieren würdest?

Der Osten Amerikas, Detroit, Chicago, war ich zwar auch schon in den 80ern, aber das ist lange her. Mich interessiert auch Brasilien, Mexico, Japan. Ich hätte auch gern die Flüchtlingskrise in Griechenland fotografiert. Eigentlich bin ich für alles offen. Nächstes Jahr werde ich zwei Monate in Rumänien fotografieren.

 

Du hast mal gesagt: „Jeder Mensch sucht nach der Erlösung. Ein Pilger ebenso wie ein Junkie. Der Unterschied liegt lediglich im individuellen Umgang mit der Einsamkeit und dem Elend.“ Wie ist dein Weg?

Ich bin absoluter Atheist. Drogen hab ich natürlich alle schon genommen. Die verlogenste Droge unter der Sonne ist Heroin. So eine Scheißdroge. Du kannst dich in deine eigene Kotze legen und fühlst dich noch wohl. Ich hab nie gespritzt, nur zwei-, dreimal geschnupft. Das ist schon ewig her, 70er Jahre. Aber Drogen sind für mich natürlich auch keine Lösung. Ich hatte das auch gar nicht nötig. Ich bin mit meinen Emotionen so klar, dass ich mir da nichts vorheucheln muss.

Was ist Erlösung? In dem Augenblick, wo du ins Gras beißt, bist du alles los. Man lebt nur einmal und ich versuch da schon das meiste rauszuholen. Es gibt für mich keine Schemata was man tun müsste für ein zufriedenes, erfülltes Leben. Ich hab meine eigenen Ansprüche. An das Jenseits glaub ich auf jeden Fall nicht.

 

Woher nimmst du deine Hoffnung? Es sind viele traurige Bilder dabei.

Es ist ja nicht alles traurig. Das Moskau Buch war schon ziemlich heftig. Aber es gibt auch andere Fotos. In New York, in Berlin, in L.A. oder in London. Ich artikuliere meine Probleme, ich bin eindeutig in meinen Emotionen, ich zensiere mich nicht, ich geh dem nach was ich will. Ich bin kein Frusti, weil ich das mache, was ich will – in meinem beschränkten finanziellen Rahmen. Ich gehe bei meiner Fotografie oder sonst wo keine Kompromisse ein. Deswegen kann ich mit mir leben. Und das was mich stört drücke ich aus.

 

Irgendwann wird man da wahrscheinlich auch abgehärteter.

Das Leben macht einen schon härter, klar. Aber ich war ja von Anfang ein Kämpfer. Obwohl ich immer eher schlank und ein Träumer war, habe ich mich mit den größten Schwachköpfen unter der Sonne geprügelt (lacht). Das lag natürlich auch an meinem hitzigen Temperament und meinem jugendlichen Übermut. Man wird härter, aber ich bin absolut nicht abgestumpft. Das ist ein Unterschied. Andere werden mit dem Alter weicher und feiger. Milder oder besonnener. Frustrierter oder bescheidener. Je nachdem wie man sich arrangiert hat, was für Ziele man verfolgt hat, was man erreicht hat oder noch erreichen will. Und ich meine damit nicht nur materielle Erfolge. Sondern vor allem einen psychischen Zustand.

 

Gab es während des Fotografierens auch Momente, wo du jemandem helfen wolltest?

Wie weit kann man denn helfen? Wenn ich jemandem ein Zigarette zustecke? Wenn jemand in Moskau auf der Straße verhungert ist und ich versucht hab ihm Wasser in die Hand zu drücken, war der meist schon zu apathisch es anzunehmen. Was ich gesehen habe, haben Bullen gesehen und Tausend andere. Wishful thinking, na klar. Klar hätte ich gern einen Krankenwagen gerufen mit einer netten Krankenschwester in petto. Aber wie weit kannst du denn gehen? Selbst wenn vor deiner Tür jeden Tag der gleiche Obdachlose liegt und du so weit gehen würdest, ihm täglich einen Obolus zu geben, was du wahrscheinlich nicht machen würdest, weil du es dir nicht leisten kannst, außer ihm vielleicht mal Essen in die Hand zu drücken, um die Ecke ist wieder der nächste und um die nächste Ecke ein Anderer. Ich bin nicht bei der Caritas. Das ist ein gesellschaftliches Problem, dass noch kein System bewältigen konnte. Außer mit drakonischen oder faschistoiden Methoden, die die individuelle Freiheit unterdrückten.  Im wirklichen Leben hast du genug mit dir selber zu tun. Wenn du raus gehst und diese ganzen Probleme siehst, da ist es schon relativ viel, wenn du das überhaupt in irgendeiner Form ausdrückst ­– fotografisch, indem du darüber schreibst oder dich sonst wie artikulierst. Und dabei riskierst du noch, dass deine Arbeit nicht gehört oder gesehen wird, keinen interessiert, zu unbequem oder zu unkommerziell ist, für Jahre ad acta gelegt oder falsch interpretiert wird.